Disput Gysi-Mölleman:
In die
neue Zeit
Jürgen
W. Möllemann
Die Mitte-Links-Regierung in den Niederlanden hat die Wahlen verloren.
Wäre Pim Fortuyn nicht ermordet worden, hätte seine gar nicht richtig
existierende Partei den Platz eins geschafft. Und er wäre der neue
Ministerpräsident.
Die niederländischen Christdemokraten haben nicht gewonnen. Wim Kok,
seine Sozialdemokraten und ihre liberalen Koalitionspartner haben
verloren. Es begann in Österreich. Jörg Haider hat nicht gewonnen,
sondern die SPÖ hat dramatisch verloren, so dramatisch, dass ihre
Stammwähler in Scharen zur FPÖ überliefen. In Portugal gewann nicht
Barroso, sondern Guterres verlor. Dänemark, Norwegen, Ungarn, Tschechien
und so weiter: Überall wurden Regierungen abgewählt.
In
eigener Sache: Rote Karte
Gysi: In
Haiders Spur
Flugs bewerten das überall die neuen Regierungsparteien als Trend für
oder gegen rechts, für oder gegen links. Je nachdem, wer im Moment von
der Niederlage des anderen profitiert. Bei uns in Deutschland beschwören
SPD und Grüne einen drohenden »Rechtsruck« in Europa. Sind denn alle
blind? Was wir überall sehen, ist der Tatsachenbeweis für die These: Es
geht nicht mehr um Rechts oder Links. Es geht nur noch darum, wer die
tatsächlichen Probleme der Menschen ohne ideologische Scheuklappen
erkennt, in der Sprache des Volkes nennt und zu ihrer Zufriedenheit
löst.
Die alten und neuen Fragen: Arbeit für alle, mehr Netto für alle,
erstklassige Bildung für jeden, Ganztags-Angebote für Kinder vom
Kindergarten an, ein würdiges und sozial gesichertes Leben bei Krankheit
und im Alter brauchen in unserer neuen Zeit neue Antworten. Alle
Parteien, die aus den Regierungen abgewählt wurden, hatten nicht den Mut
gefunden oder nicht konsequent genug, alte, nicht mehr gangbare Wege zu
verlassen.
Tony Blair, Lionel Jospin und Gerhard Schröder traten genau mit diesem
Anspruch an, alte Wege zu verlassen und neue zu gehen. Jospin wurde
abgewählt, weil er sein Versprechen nicht einlöste. Tony Blair brachte
allein als Person das Kunststück fertig, trotzdem eine zweite Chance zu
kriegen.
Das ist auch die einzige Chance von Gerhard Schröder. Er verspielt sie,
wenn seine Kurskorrektur – »die oder wir« statt »der oder ich« – mehr
ist als eine flüchtige Beruhigungspille für seine Linke. Aber auch wenn
Edmund Stoiber Kanzler würde, hätte nicht die CSU/CDU gewonnen, sondern
die SPD verloren, wäre die rot-grüne Regierung abgewählt worden. Der
gemeinsame Nenner der Europa-weiten Wahlergebnisse ist weder ein
Rechtstrend noch ein Linkstrend, sondern die Emanzipation der
Demokraten.
Die Historiker werden später schreiben: Zu Beginn des dritten
Jahrtausends prägte eine Welle des erwachenden Selbstbewusstseins der
Menschen die Völker und Staaten Europas. Ein mündiges Volk von
Demokraten nach dem anderen zwang die politische Klasse, sich an Haupt
und Gliedern zu erneuern.
Ein Volk nach dem anderen wählte jede Regierung gnadenlos ab, die
Versprechen nicht einlöste und Erwartungen nicht erfüllte. Die Zeit der
Glaubenskriege, in der jede Wahl als ideologischer Richtungskrieg und
Lagerwahlkampf geführt worden war, fand ihr Ende.
Nachkriegszeit, Kalter Krieg, europäische Teilung und die Nachwehen
ihres überraschenden Endes fanden ihren Abschluss in den ersten Jahren
des neuen Jahrhunderts. Seitdem konkurrieren Demokraten um kluge
Lösungen statt Glaubensbekenntnisse. Eine neue Zeit brach an. Und das
war gut so.
(ND 27.05.02)